Wir alle stehen ständig auf einer Bühne – auch wenn kein Scheinwerfer auf uns gerichtet ist. Ob im Bewerbungsgespräch, beim ersten Date oder im wöchentlichen Meeting im Büro: Wir möchten gut wirken, Eindruck machen, „ankommen“. Schon die Wortwahl verrät es: Wir wollen etwas wirken lassen. Es geht nicht nur darum, zu sein, sondern darum, eine Rolle einzunehmen.

Das Leben gleicht in vielen Momenten einem Casting. Wir treten auf, präsentieren uns, warten auf Rückmeldung – manchmal fällt sie freundlich aus, manchmal ist sie gnadenlos. Doch während es beim Theater oder Film eine sichtbare Jury gibt, bleibt sie im Alltag unsichtbar. Wer entscheidet eigentlich, ob wir überzeugen? Die Chefin, der Partner, die Familie? Oder sind es in Wahrheit wir selbst, die unermüdlich alles bewerten?

Die unsichtbare Jury

Die härteste Jury sitzt meist in unserem eigenen Kopf. Der innere Kritiker, der alles kommentiert: „Das hättest du besser sagen können.“ „Warum hast du nicht gelächelt?“ „Du bist nicht gut genug vorbereitet.“ Diese Stimme hat hohe Ansprüche und gibt sich selten zufrieden.

Dabei gibt es keine klaren Kriterien. Mal sollen wir souverän auftreten, mal bescheiden wirken. Mal spontan sein, dann wieder diszipliniert. Wir wechseln ständig Rollen, um dazuzugehören – und irgendwann wissen wir selbst nicht mehr, ob wir noch spielen oder schon wir selbst sind.

Masken als Lebenshilfe

Um diesem Druck standzuhalten, greifen wir zu Masken. Wir zeigen die freundliche Kollegin, den kompetenten Experten, die charmante Gastgeberin. Besonders in den sozialen Medien perfektionieren wir dieses Spiel: schöne Fotos, sorgfältig ausgewählte Momente, Geschichten, die das Leben glatter erscheinen lassen, als es ist.

Masken sind nicht per se schlecht. Sie helfen, uns in Situationen zu bewegen, in denen wir verletzlich wären. Doch sie haben ihren Preis. Je länger wir sie tragen, desto schwerer fällt es, sie abzulegen. Und irgendwann wächst die Sehnsucht nach einem Moment, in dem wir uns nicht präsentieren müssen, sondern einfach da sein können.

Wenn es komisch wird

Gerade da, wo wir besonders echt wirken wollen, stolpern wir am leichtesten. Wir verhaspeln uns, wirken übertrieben, verraten unsere Nervosität. Wer sich Mühe gibt, besonders souverän zu erscheinen, verrät sich oft durch eine kleine Geste, einen Blick, einen Versprecher.

Diese unfreiwilligen Pannen sind menschlich – und sie sind oft komisch. Das Tragische kippt ins Komische, und genau dort liegt eine Wahrheit: Unser ständiges Bemühen, „authentisch“ zu sein, entlarvt uns selbst. Wir lachen über diese Momente, weil wir sie alle kennen.

Theater als Spiegel

Das Theater greift diese alltäglichen Erfahrungen auf und verdichtet sie. Auf der Bühne begegnen uns Figuren, die Rollen spielen – und gleichzeitig damit kämpfen, ihre Masken zu halten. Wir lachen über sie, wir leiden mit ihnen, und in ihrem Scheitern erkennen wir uns selbst.

Theater wird so zu einem Spiegel, der zeigt, wie sehr unser Leben von Inszenierungen geprägt ist. Und wie schnell das Spiel zwischen Ernst und Komik kippt – von der Tragödie in die Farce und zurück.

Ein Casting, das keines ist

Das neue Stück „Der Blick der Medusa“, von Levent Özdil, knüpft genau hier an. Es beginnt wie ein gewöhnliches Casting: Schauspieler:innen treten an, um sich zu beweisen. Doch sehr schnell wird klar, dass es um mehr geht als um eine Rolle. Statt Szenen aus einem Drehbuch vorzuspielen, geraten die Figuren in ein Spiel, das ihre Masken aufbricht und ihre verborgenen Zweifel, Wünsche und Ängste ans Licht bringt.

Was dabei entsteht, ist zugleich intensiv und absurd, ernst und komisch. Große Monologe wechseln sich mit kleinen Pannen ab. Stolze Selbstdarstellung kollidiert mit verletzlicher Ehrlichkeit. Und immer wieder blitzt Humor auf – mal scharf, mal leise, mal grotesk.

Der Blick der Medusa

Der Titel verweist auf die Figur aus der griechischen Mythologie: Medusa, deren Blick jeden, der ihn erwiderte, zu Stein erstarren ließ. Auch im Stück geht es um diesen Blick – um das Risiko, sich selbst direkt ins Gesicht zu schauen. Wer das wagt, kann ins Erstarren geraten. Aber vielleicht liegt genau darin die Chance, etwas zu entdecken, das unter den Masken verborgen war.

Zwischen Wahrheit und Vorstellung

„Der Blick der Medusa“ erzählt nicht einfach eine Geschichte. Es ist ein Stück über das Spiel selbst – über das Bedürfnis, gesehen zu werden, und die Angst, entlarvt zu werden. Über die Masken, die wir tragen, und das, was passiert, wenn sie fallen.

Das Publikum lacht, weil es die Absurdität erkennt. Es ist berührt, weil es die Verletzlichkeit spürt. Und es wird hineingezogen in eine Welt, die so fremd nicht ist: Denn wir alle wissen, wie sich ein Casting anfühlt – selbst wenn es nicht auf einer Bühne stattfindet.

Mehr Infos zum Herbststück 2025 und die Tickets gibt es hier:
https://theater-in-der-stadt.de/der-blick-der-medusa/