In diesem Interview geht es um die Unterschiede zwischen Film und Theater, darum, was gute Geschichten ausmachen und welches Potenzial der Theaterleiter vom Theater in der Stadt, Levent Özdil in der Erforschung menschlicher Beziehungen sieht. Seine Art mit den Schauspielern gemeinsam die Theaterstücke lebendig zu machen, steht im Vordergrund seines Schaffens, und ebenso winkt ihm die große Vision, die er langfristig für das Theater in der Stadt hegt, aus der Ferne zu …

 

F: Du hast auch Erfahrungen im Fernsehen, vor der Kamera sammeln können, was ist denn für Dich der Unterschied zwischen Film und Theater?

Levent: Das sind zwei unterschiedliche „Sportdisziplinen“, die das gleiche Ziel haben. Theater ist live, im Augenblick und es kann nicht wiederholt werden, was auf der Bühne passiert. Beim Film und Fernsehen geht es darum, dass kein Publikum da ist, eine ganz andere Art und Weise des Spiels nötig ist, eine viel reduziertere. Da muss man viel weniger expressiv sein, sehr klein spielen, damit die Projektionsfläche für den Zuschauer am größten ist.

Beim Theater ist es genau andersherum, man muss für die letzte Reihe hinten auch noch spielen, das heißt laut sein, expressiv, mit viel Gestik und Mimik, je nach Art der Inszenierung. Es gibt sicher auch Theaterstücke, wo das nicht so ist, aber das ist für mich der große Unterschied. Film und Fernsehen haben eine ganz andere Herangehensweise an das Medium der Unterhaltung und die Kunst eine Geschichte zu erzählen. Beim Theater ist das alles viel lebendiger. Beim Theater probt man viel mehr, man beschäftigt sich viel länger mit den Szenen, mit den Figuren. Beim Fernsehen ist das meistens gar nicht der Fall. Da geht es eher darum abzuliefern. Man muss schon so gut vorbereitet sein, dass man nur noch ein paar Anweisungen folgen muss, und liefert, was vom Regisseur gewünscht ist.

Beim Theater ist es auch eine Engergiesache. Wenn man im besten Fall viele Zuschauer vor sich sitzen hat und sich die Energie vom Publikum auf die Bühne und zurück überträgt, ist das ein Miteinander. Das kann im Film gar nicht hergestellt werden. Im Film ist es eher so, dass wir fasziniert jemandem dabei zuschauen können, berührt werden können, aber kein Energieaustausch rüberkommt.

Weil es konserviert und nicht im Augenblick ist. Film ist schon eine Konserve. Er ist geschnitten, mit Musik unterlegt, er ist angefertigt, verarbeitet. Ich finde es gibt sehr Wenige, die das wirklich kunstvoll machen.

F.: Hast Du Beispiele für jene, die Dich faszinieren?

Levent: Andrej Tarkowskij, Stanley Kubrick, Ingmar Bergmann. Auch Martin Scorsese ist einer der Wenigen, finde ich, der es schafft Filme zu drehen, die unterhalten und auch gekonnt eine Geschichte auf eine sehr individuelle, spannende, schöne und auch lustige Art und Weise erzählt. Es gibt ein paar großartige Regisseure, die herausragen, die ein Alleinstellungsmerkmal haben, wo nichts und niemand so schnell herankommt. Es gibt auch in der heutigen Zeit ein paar Regisseure, die nicht schlecht sind. Für mich ist in erster Linie das Wichtigste, dass ich etwas sehe, was ich so noch nie gesehen habe, was mich so ergreift, dass ich nicht nebenher Solitär spiele und das einfach laufen lasse. Es muss meine Aufmerksamkeit fesseln.

F.Welche Geschichten erzählst Du gerne? Was kommt aus Dir heraus, was begeistert Dich? Im Theater in der Stadt hast Du mindestens drei Funktionen: Du bist der Theaterleiter, Du hast die ganze Koordination im Blick, Du bist der Stückeschreiber und Du inszenierst.: 

Levent: Genau. Das sind die ganzen Aufgaben, die ich jetzt im Moment übernehme, wobei ich wichtig finde, dass auch anderen Kreativen die Möglichkeit gegeben wird, sich durch Stücke und/oder Inszenierungen, einzubringen. Je nachdem, wie es zum Theater passt.

Die Geschichten selbst formieren sich um ein Gefühl herum, um eine Frage, die in mir auftaucht. Was mich auf jeden Fall interessiert, ist das Thema der menschlichen Beziehung. Es geht mir um eine Betrachtung, die von der Oberfläche bis in die Tiefe reicht, wo es um jeden Aspekt des menschlichen Lebens geht. Und das sowohl energetisch als auch funktionell – Partner/Partnerin, Familie, Kollegen – es geht immer um die Frage, was die Verbindung ist und was uns als Menschen bewegt.

Was passiert da? Es ist ein Passieren, wovon wir bewegt werden und was durch uns fließt und wiederum andere Menschen und Situationen in Bewegung versetzt. Das zu formulieren und zu betrachten und im besten Fall so rüberzubringen, dass es sowohl unterhält und gleichzeitig eine schöne Geschichte erzählt und dann auch noch tiefe Fragen darüber aufwirft, was das alles hier ist. Was bewegt uns, was bewegt mich? Was ist das, was wir alle hier so als Leben bezeichnen und als Liebe? Man kann in der Hinsicht jedes Thema nehmen, so wie auch bei unserer ersten Produktion letztes Jahr, wo es um das Thema
Erinnerung ging.

Was ist denn eine Erinnerung? Oder woran erkennt man die Verbindungen in einer Familie? Auch beim aktuellen Stück die Frage danach, wie deutlich man eigentlich Unterschiedlichkeit zeigen kann und trotzdem auch die Gemeinsamkeit in der Unterschiedlichkeit? Das, zum Beispiel, finde ich beim „großen Los“ auch sehr spannend. Mal abgesehen davon, dass auch das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Lebenssituationen und Lebensmodellen Fragen aufwirft, was dann passiert. Wie zeigt sich das gegenseitige Abstoßen und auch das sich Verbinden und Verbünden? Es geht vor Allem um die Energie und die Verbindungen, die da passieren – in den Geschichten, die mich interessieren.

F.: Was bedeutet für Dich die Arbeit des Inszenierens? Wenn die Geschichte vor Deinen Augen lebendig wird. Was findest Du wichtig beim Inszenieren?

Levent: Beim Inszenieren gibt es für mich verschiedene Phasen und Ebenen des Inszenierens. Ich könnte meine Schauspieler einfach nur daraufhin inszenieren, dass ich sie wie Marionetten behandle und sie nur das zu tun haben, was ich befehle, wie ich sie bewege und was ich sehen will – was aber nicht in meinem Interesse liegt. Ich wäre ein Puppenspieler, der „das Material“ nur für die eigene Vision benutzt.

Viel spannender finde ich aber zu fragen, wie ich meine Vision in meinen Schauspielern zum Wachsen bringen kann. Wie kann ich ihnen einen Samen einpflanzen und den dann einfach gießen und schauen, wie ich diese Pflanze pflege, damit sie dann vollkommen von dem bewegt wird, was ich herausarbeiten will. Gleichzeitig aber auch rein intuitiv zu schauen, was bei diesem Menschen das Thema ist und damit die Geschichte zu erzählen.

Ich merke, dass es die Schauspielerinnen und Schauspieler bewegt, wenn ich ihnen auch das Gefühl gebe, dass es um sie geht. Es geht nicht nur um die Figur und die Geschichte und um das Stück, sondern es geht gerade um die Schauspieler. Es geht darum, sie an die Hand zu nehmen und mit ihnen gemeinsam eine Geschichte zu erzählen. Mir ist dieser Aspekt viel wichtiger. Ich sage immer, dass niemand etwas falsch machen kann, weil keiner von ihnen falsch ist. Es ist eher eine Frage danach, wie wir das gemeinsam finden können. Und wie wir es jeweils im Einzelnen gemeinsam zum Wachsen bringen.

Und wenn ich jemanden vor mir habe, der noch zurückhaltend ist, zu schauen, wie ich ihn oder sie langsam in ein Vertrauen führen kann, in eine Sicherheit in sich selbst, damit er oder sie die Entdeckung macht: „Wow! Ich kann ja ganz anders! Ich bin ja in der Lage meine Schüchternheit hinter mir zu lassen. Auch wenn es nur kleine Schritte sind! Oder mich zu öffnen und mich zu trauen und mich einzulassen.“ Es ist viel spannender zu sehen, was, im Kontext der Inszenierung der Geschichte, mit jedem
Einzelnen passiert.

F.: Würdest Du sagen, dass man das als das Besondere vom Theater in der Stadt ansehen kann, dass es ein Miteinander ist? Von Mensch zu Mensch – was auch die Darsteller dazu bringt mit sich selbst zu arbeiten, eine neue Erfahrung in sich selbst zu entdecken, eben aus dem Aspekt der Persönlichkeitsentfaltung heraus betrachtet?

Levent: Auf jeden Fall! Für mich ist die wichtigste Voraussetzung – sobald jemand dabei ist und mitmacht – eine gewisse Offenheit sich selbst gegenüber. Die Offenheit, sich hier einfach einzulassen, sich führen zu lassen und zu schauen, was passiert, und nicht voreingenommen zu sein. Das macht das Theater in der Stadt aus, dass wir als Ensemble auf eine Art und Weise zusammen sind und zusammenarbeiten, wo wir alle irgendwie spüren, dass es um die Offenheit geht und um das Entdeckenwollen und das Ausprobierenwollen von uns selbst.

Ich wachse mit jeder Produktion und mit jedem Stück, und das Ensemble auch. Jeder macht einen Prozess durch, an dessen Ende aber nicht eine Erschöpfung steht und eine Freude darüber, dass es zu Ende ist, sondern wo sich eher ein Gefühl von Energetisierung einstellt. So, dass jeder angehoben ist und auf unterschiedlichste Art begeistert ist. Mal mehr, mal weniger, aber dass alle Beteiligten merken, dass es etwas Schönes mit ihnen macht. Das ist, im Grunde, schon der Geist von Theater in der Stadt, und es gehört auch dazu, es auch im Kontext der Stadt und des Publikums zu sehen. Mir geht es darum in einem klassischen Sinne Theater zu machen, als Möglichkeit das Publikum in jeder Form zu bewegen, sei es durch den Humor, durch die Ideen, durch die Gedanken, durch Fragen, die aufgeworfen werden.

So wie ich mir das griechische Theater, wo die Anfänge des Theaters überhaupt liegen, vorstelle. Das war damals der Sinn des Ganzen. Es ging nicht nur um Unterhaltung oder darum, Informationen weiterzugeben und jemandem Stoff zum Nachdenken zu verschaffen, welche Bedeutung das Stück nun haben könnte, sondern zu schauen, wie in jemandem etwas aktiviert werden kann, was er selbst vielleicht noch gar nicht so deutlich gesehen hat. Eine Frage, oder ein Wunsch oder ein Thema … Mir geht es darum zu schauen, wie ich Theater zu einer Musik machen kann, die das Publikum berührt und das Publikum noch nicht mal sagen kann warum, weil es an der Ratio, am Verstand vorbei geht.

F.: Was hat Dich dazu bewegt das Theater in Bad Windsheim zu gründen? Warum hast Du es nicht in Fürth oder Nürnberg getan, wo man mehr Publikum für diese Art Theater vermutet.

Levent: Ich habe mich nur einmal gefragt, wer eigentlich mein Publikum sein soll. Und ich habe festgestellt, dass das vollkommen egal ist. Weil es nicht um das Publikum geht. Es geht nicht darum mir das Publikum rauszusuchen, das ich haben will. Es geht darum das zu machen, was ich will und dann das Publikum anzuziehen, das damit in Resonanz ist. Und ich mache es hier, weil ich hier lebe, ganz einfach. Ich bin hier und habe viele Jahre nicht gesehen, dass ich, auf der Suche nach mir selbst, immer woanders gesucht habe. Nachdem ich den Impuls hatte das Theater zu gründen, wurde mir klar, dass die einzige Antwort nach der Frage, wer ich bin, dort liegt, wo ich bin.

Das ist der Grund, warum ich das hier machen will und auch nirgendwo anders. Noch nicht mal aus dem vermeintlichen Grund, dass Bad Windsheim nicht viel zu bieten hätte und hier nicht der richtige Boden wäre, wo etwas entstehen könnte … Nein, das stimmt nicht. Hier entstehen Dinge, hier gibt es Menschen, die schon Kunst machen. Es gibt Maler, es gibt Musiker, auch Schauspieler, das gibt’s hier alles auch! Es ist viel eher so, dass ich sage: „Ich bin hier!“, und ich will mein Potenzial hier vollkommen zur Entfaltung bringen, weil ich jetzt endlich akzeptiert habe, dass ich angekommen bin und hier bleiben will, weil hier meine größtmögliche Kraft liegt. Es geht nicht darum, die Welt zu erobern. „Die Welt“ soll zu mir kommen, ich will nicht „die Welt“ suchen mit meinem Projekt.

F.: Gibt es eine Vision, die Du in den nächsten Jahren für das Theater hast, oder machst Du das, was vor Deiner Nase liegt?

Levent: Beides. Zum einen mache ich absolut das, was jetzt vor der Nase liegt, und zum anderen gibt es Stücke, die in mir reifen, und Ideen, die immer wieder auftauchen und mich nicht loslassen, wie das Stück über Georg Wilhelm Steller, das definitiv kommen wird. Es gibt Formen, die ich gerne ausprobieren will, wie ein Weihnachtsmärchen für Kinder oder die Arbeit mit Jugendlichen. Und da ist dann auch die Frage, wie viele Produktionen schaffe ich im Jahr? Es geht darum das herauszufinden. Langfristig ist die Vision aber ein eigenes Theaterhaus. Ein eigenes Gebäude mit einem Theater, wo wir eine Bühne haben, einen schwarzen Raum, Zuschauerplätze, ein kleines Foyer, wo man sitzen und noch was trinken kann … Sowas zu haben, aufzubauen und auch als Raum für andere Künstler anzubieten, für unterschiedliche Formen von Kunst, ist meine große Vision für das Theater in der Stadt.